Europawahl: Wir müssen 16-Jährige besser darauf vorbereiten! | MEINUNG

Stand: 15.05.2024, 06:00 Uhr

"Wer ist Ursula von der Leyen und worum geht's bei dieser Europawahl? Warum sind Scholz und Habeck auf Wahlplakaten - gehen die jetzt nach Brüssel?" Wir müssen uns häufiger die Fragen der Erstwähler anhören und sie beantworten, meint Ralph Sina.

Von Ralph Sina

Zum ersten Mal in der Geschichte der EU dürfen alle ab 16 mitentscheiden, wer in Zukunft fünf Jahre im Europaparlament abstimmt. Einzige Voraussetzung: die Staatsbürgerschaft eines EU-Staates. Informiert sein muss niemand. Das ist im Fall von Europa besonders gefährlich. Denn "über Europa kann man allen Blödsinn behaupten. Er wird einem meistens sofort geglaubt". Das ist die Erfahrung vieler Kollegen im ARD-Studio Brüssel. Sein langjähriger Leiter Rolf-Dieter Krause hat sie besonders treffend auf den Punkt gebracht.

Das EU-Parlament ist wie ein Raumschiff - für viele weit weg

Als ehemaliger Brüssel-Korrespondent war ich in den letzten Wochen oft bei Informationsveranstaltungen für Erstwähler an Schulen, Fachhochschulen und Volkshochschulen in NRW. Dabei ist mir klar geworden, dass viele denken, die EU ist nur für die ganz großen weltpolitischen Themen zuständig: Sanktionen gegen Russland oder den Iran, den Kampf gegen den Klimawandel oder die Steuerung der Migration. Sozusagen für die "Tagesschau-Themen".

Im Gegenteil! Viele der Gesetze, die im EU-Parlament entstehen, betreffen gezielt junge Menschen. Aktuell geht es zum Beispiel darum, ob begleitetes Fahren ab 17 auch für 40-Tonner erlaubt wird.

In der EU geht es häufig um sehr Alltägliches. Zum Beispiel darum, überflüssigen Elektroschrott zu vermeiden. Durch einheitliche Ladekabel für alle Handys, Tablets und Spielekonsolen. Wenn der Wirtschaftsriese EU beschließt, dass beim Aufladen von Smartphones, Digitalkameras, E-Readern oder Navigationsgeräten USB-C der Standard wird, zieht sogar Apple mit und verabschiedet sich von seinen Eigenlösungen. Die Silicon-Valley Giganten Apple und Amazon, Microsoft und Facebook nehmen mittlerweile die EU und das was in Brüssel beschlossen wird sehr ernst.

Und das bekommen dann auch junge Europäer und Europäerinnen mit! Es macht einige von ihnen neugierig auf die Diskussionen in Brüssel mit den Tech-Giganten. Und auf die Positionen der Europawahl-Kandidaten.

Die EU bleibt für viele trotzdem abstrakt!

Kolumnist Ralph Sina spricht mit Schülern und Schülerinnen des Leibniz-Gymnasiums Gelsenkirchen-Buer über die anstehende Europawahl | Bildquelle: Klaus Hoffmann

Die EU ist wichtig, gerade wenn es um Themen geht, bei denen Nationalstaaten allein wenig ausrichten können. An der Uni- Duisburg verfolge ich unter der Überschrift "NRW diskutiert Europa" eine Debatte von Erstwählern und Erstwählerinnen, wann endlich Hochgeschwindigkeitszüge die EU-Hauptstädte miteinander verbinden. Doch dieses engagierte EU-Interesse ist nach meinen Beobachtungen die ganz seltene Ausnahme. Ja, es gibt sie: die Europastudiengänge einzelner Unis, die NRW-Europaschulen und sehr EU-engagierte Oberstufenklassen, wie zum Beispiel am Leibniz-Gymnasium in Gelsenkirchen-Buer, mit denen ich angeregt diskutiert habe. Es sind kleine Inseln in einem Meer von Vorurteilen.

Die EU und ihr Parlament sind nach meinen Beobachtungen der letzten Monate für viele Erstwähler weiter eher ein unbekanntes Wesen. Entsprechend rangiert die Europawahl unter 'ferner liefen'. Viele betrachten sie allenfalls als Fieberthermometer, das anzeigt, wie krank die Ampel in Berlin ist. Wie stark die chinesische Spionage-Affaire der AfD schadet. Und inwieweit davon das Bündnis Sarah Wagenknecht profitiert. Die Europahauptstadt Brüssel ist gerade für junge Wähler in NRW sehr weit weg. Obwohl sie doch eigentlich vor der Haustür liegt, näher als Berlin mit unserem Bundestag.

Die EU und das Ruhrgebiet

Im Urlaub und auf Reisen zeigen sich die Vorteile der EU: durch den Euro, passfreie Grenzüberquerungen im Schengenraum, bei den Fluggastrechten und die entfallenen Roaming-Gebühren. Die Frage der Erstwähler und Erstwählerinnen "Wo ist die EU in meinem Alltag?" hält sich hartnäckig.

Selbst in Duisburg, Marl, Gelsenkirchen und Oberhausen - den zukünftigen Zentren des grünen Wasserstoffs und des CO2 freien Stahls, ist für viele Azubis und Erstwähler die EU ganz weit weg. Gefühlt auf einem anderen Planeten, obwohl die EU-Kommission Milliarden-Förderungen für das Ruhrgebiet genehmigt hat.

Die noch amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen weiß genau, dass ihr "Green Deal" und ihr Reden von Europa als erstem klimaneutralen Kontinent leeres Gerede bleibt, wenn es im Ruhrgebiet nicht gelingt, konkurrenzfähigen Grünen Stahl zu produzieren.

Die Zukunft des klimaneutralen Europas und des Ruhrgebiets als Zentrum der CO2-freien Industrieproduktion sind untrennbar verbunden. Doch von der Leyen - die laut Forbes mächtigste Frau der Welt - wurde im mit fünf Millionen Menschen wichtigsten Industriezentrum der EU seit ihrem Amtsantritt vor fünf Jahren kein einziges Mal dort gesehen. Eine verpasste Gelegenheit, um jungen Menschen die EU näher zu bringen. Das Raumschiff Brüssel ist physisch zwar dem Pott ganz nah, mental aber weit weg.

Aufklärung überlässt die EU anderen

Umso wichtiger, dass es hier begeisterte Jung-Europäer wie Milad Tabesch gibt. "Ruhrpott für Europa" heißt die Initiative, die er gegründet hat. Seine Eltern sind aus Afghanistan vor der von den Sowjets unterstützten Nadschibullah-Regierung in Kabul nach Europa geflüchtet. Milad wurde in Bochum geboren, wuchs sozusagen in der Pizzeria seiner Eltern auf. "Die EU ist für mich existentiell.", sagt Milad, wenn er 16-jährigen Erstwählern von den Fluchterfahrungen seiner Eltern erzählt. Und von seiner eigenen Biografie. Dank eines Stipendiums konnte er an der Hertie-School in Berlin und in New York studieren. Von Manhattan kehrte er nach Bochum zurück, um in Podcasts, Chats und bei Vorträgen in Schulen Jugendliche über die Wichtigkeit der EU und der Europawahl zu informieren. Tabesch ist einer der besten EU-Botschafter im Ruhrgebiet, den Brüssel sich wünschen kann.

Die alten Erzählungen ziehen nicht mehr

Um Jugendliche in Zukunft mehr für Europa und seine Wahl zu interessieren, müssen wir viel stärker auf ihre Themen eingehen. Es reicht nicht, immer wieder zu betonen, dass der Exportriese Deutschland ohne den EU-Binnenmarkt ein Zwerg wäre. Und immer wieder von den tollen Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten im europäischen Ausland zu schwärmen. Die jungen IT-Freaks wollen wissen: Wo gibt es das Risikokapital in Europa, wenn ich später ein Start-Up gründen und groß machen will? Wie positioniert sich die EU zu TikTok? Was halten die zukünftigen EU-Parlamentarier von einer Chatkontrolle beim Kampf gegen den Kindesmissbrauch? Wie positioniert sich die EU beim Datenschutz?

Die EU ist doppelt bedroht

Europa ist durch Putin von außen existentiell bedroht. Eine zusätzliche Bedrohung von innen können wir uns nicht leisten. Weder durch EU-Gegner noch durch Jungwähler, die mit der EU einfach nichts anzufangen wissen. Deshalb müssen wir öfter und intensiver mit ihnen ins Gespräch gehen.

Was meinen Sie, werden junge Erstwähler und Erstwählerinnen ausreichend auf die Europawahl vorbereitet? Was können Schulen in diesem Punkt leisten? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.

Kommentare zum Thema

  • Anonym 21.05.2024, 09:45 Uhr

    Eigentlich wollte ich erst an einer Europawahl teilnehmen, wenn das gewählte Europaparlament allein über eine europäische Regierung bestimmt. Aber angesichts der Rechten habe ich diese Entscheidung noch einmal überdacht. Mit der Wahlbeteiligung kann man durchaus auch ein Zeichen gegen den Rechtspopulismus setzen.

  • Anonym 21.05.2024, 07:01 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • Grenzgänger 21.05.2024, 00:05 Uhr

    Die Hoffnung auf mehr grüne Stimmen beim Wählen ab 16 war wohl Selbstbetrug. „Repräsentative Umfrage: Stimmungstief und Rechtsruck bei Jugend“, kann man beim ZDF lesen. Vorteile beim Grenzübertritt sehe ich nicht. Auch als ich noch D-Mark tauschen musste wurde ich vor dem Schengenraum nie an der Grenze von Luxemburg oder Niederlande kontrolliert, nur der Franzose hat gelangweilt einen kurzen Blick auf meinen Ausweis geworfen. Dabei gehörte ich vom Erscheinungsbild mit Bundeswehrparka und langen ungepflegten Haaren zu den „üblichen Verdächtigen“. Was aber einen erheblichen Unterschied macht, deutsche Autos zum Beispiel werden heute zu großen Teilen oder ganz im Ausland produziert um Lohnkosten zu sparen. So wie die EU heute gestrickt ist trifft der Vorwurf Elitenprojekt mehr denn je zu, von Reichen für Reiche und wirklich grenzenlos nur scheint die Umverteilung von unten nach oben zu sein. Und die „Milliarden-Förderungen für das Ruhrgebiet“ von der EU kommt vom deutschen Steuerzahler.