Ein Jahr Krieg in der Ukraine hat mich verändert. Und das, obwohl ich weit weg vom Kriegsgeschehen bin und ausschließlich indirekt durch Medien, Freunde und Ukraine-Flüchtlinge in meiner Umgebung mit dem Krieg konfrontiert werde.
Am Abend des Kriegsbeginns war ich als ehemaliger Brüssel-Korrespondent zu einer TV-Diskussionsrunde zum Thema "Was kann Putin bremsen?" eingeladen.
Ich sprach damals von einem tiefen Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte. Wie tief diese Zäsur wirklich ist und wie sie mich auch persönlich betrifft, merke ich jetzt: Putins systematischer Vernichtungs- und Vergewaltigungskrieg hat meine Haltung in zentralen Punkten verändert.
Heute würde ich Wehrdienst leisten
Ich würde heute zum Beispiel den Wehrdienst nicht mehr verweigern, wie ich das in der Zeit der Ost-West-Entspannungspolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt getan habe. "Frieden schaffen ohne Waffen" - in diesem Punkt war ich mir damals mit meinen Freunden einig. Diese pazifistische Grundhaltung ist mir nach wie vor sympathisch. Aber sie ist angesichts Putins Vernichtungskriegs auch gefährlich naiv.
Als ehemaliger Zivildienstleistender bin ich jetzt strikt dafür, dass die EU-Staaten gemeinsam der ukrainischen Armee so viele Waffen, Panzer und Munition wie möglich liefern. Russland kann nur durch militärische Gewalt gezwungen werden, ohne erpresserische Vorbedingungen mit der Ukraine zu verhandeln.
Putin wird erst verhandeln, wenn er militärisch nichts mehr gewinnen kann
Als ehemaliger Kriegsdienstverweigerer bin ich strikt dagegen, Putin Zugeständnisse zu machen und ihm irgendeine Form von "Rettungsring" zuzuwerfen. Ich wünsche mir, dass eines Tages ein Putin-Nach-Nachfolger in Kiew vor dem Denkmal für ukrainische Soldaten niederkniet und um Entschuldigung bittet - so, wie es Willy Brandt 1970 in der polnischen Hauptstadt Warschau gemacht hat. Eine Utopie, ich weiß!
Es gibt keine unparteiische Ukraine-Berichterstattung
Dabei hatte doch der von mir verehrte journalistische "Über-Vater" und ehemalige Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs gemahnt, sich niemals mit einer Seite gemein zu machen. Sei sie auch noch so edel und gut. Kritische Distanz zu wahren, ist für mich immer noch eine wichtige journalistische Leitschnur.
Aber bei der Berichterstattung über Putins Völkermord und die russischen Massenvergewaltigungen und Kindesentführungen in der Ukraine darf es keine Neutralität geben. Bei der Ukraine-Kriegsberichterstattung kommt das "Friedrichs-Prinzip" der kritischen Distanz an seine Grenzen.
Wer seine eigene Menschlichkeit nicht verraten will, muss Partei ergreifen
Weil sie uns die Brutalität der Täter und das Leiden der Opfer eindrücklich vor Augen führen, haben aus meiner Sicht den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis in diesem Jahr zwei Kollegen ganz besonders verdient: Paul Ronzheimer, der seit Kriegsbeginn überaus mutig für "Bild" von der Front berichtet. Und der ARD-Kiew-Korrespondent Vassili Golod, für seine vielen exzellenten Berichte, seine überragende ARD-Doku "Krieg im Leben" und sein klares und doch immer beherrschtes Auftreten bei "Hart aber Fair".
Als der Krieg ausbrach und Charkiw in Trümmern lag, zeigte mir Vassili auf dem Fernsehbildschirm das zerstörte Haus, in dem sein ukrainischer Vater Fechtweltmeister geworden war. Putins Angriffskrieg in Europa ist mir im beruflichen und privaten Umfeld so nahe gerückt, wie kein anderer Krieg zuvor.
Betriebsblind in Brüssel
Ein Jahr Ukraine-Krieg hat mir klar gemacht, dass ich mich während meiner Brüssel-Zeit viel zu wenig um die EU-Abhängigkeit von Putins Gas gekümmert habe. Alles war uns Brüssel-Korrespondenten wichtiger: Selbst der idiotische EU-Streit um das transatlantische Freihandelsabkommen mit Kanada! Die Anti-Freihandelsdemos haben wir viel zu ernst genommen. Wie grotesk: Das freiheitliche Kanada war für viele Demonstranten der bedrohliche Gegner. Und nicht der damals schon mörderische Gaslieferant Putin!
Der annektierte die Krim und provozierte einen Krieg in der Ostukraine. Dennoch genehmigte der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel 2014 den Verkauf eines deutschen Gasspeichers in Rheden an das russische Unternehmen Gazprom. In Brüssel standen die Vertreter der baltischen Staaten und Polens Kopf. Doch das interessierte uns Journalisten damals wenig. Wir waren in diesem Punkt so ignorant wie Merkel und ihr Stellvertreter Sigmar Gabriel.
Schuldbekenntnis von Merkels Stellvertreter
Vor kurzem habe ich dem ehemaligen Vizekanzler und Ex-Außenminister Gabriel zugehört. Im Kurtheater von Horn-Bad Meinberg sprach Gabriel zunächst schwungvoll und launig über den Welthandel vom Mittelalter bis heute.
Immerhin: Auf Nachfrage gestand Gabriel, beim Handel mit Russland gravierende Fehler gemacht zu haben. Deutschland habe raus aus der Kernenergie und Kohle gewollt. Da sei Putins Gas sehr willkommen gewesen. Außerdem wollte man den Krim-Besetzer nicht verärgern. Schließlich hatte Merkel mit Putin das Minsker Abkommen zum Waffenstillstand in der Ost-Ukraine zu Papier gebracht.
Mittlerweile ist klar: Putin kennt keine Abkommen mehr. Sondern nur noch Gewalt und atomare Drohungen. Den Vertrag zur Begrenzung der Atomwaffen hat er gerade in seiner Rede an die Nation gekündigt. Dieser Vertrag bedeutete zugleich einen ständigen Gesprächskanal zwischen Washington und Moskau. Jetzt droht Funkstille zwischen den beiden größten Atommächten der Welt. Das macht mir Angst.
Ein Jahr später und der Krieg geht weiter
Wenn es jemanden gibt, der Putin durch seine massive Ukraine-Unterstützung irgendwann an den Verhandlungstisch zwingen kann, ist es wohl Joe Biden. Ich hoffe, dass der US-Präsident diesen Kurs im kommenden US-Wahlkampf 2024 durchhält. Und das Verteidigungsbündnis NATO der Ukraine auf Dauer Sicherheitsgarantien gibt.
Apropos Ukraine unterstützen: In vielen NRW-Städten finden heute, am Jahrestag der russischen Ukraine-Invasion, Solidaritätsdemos statt. Ich werde in meiner Heimatstadt Essen auf dem Burgplatz dabei sein - nur einen Kilometer entfernt von dem Jugendheim, in dem ich vor über 40 Jahren als Zivildienstleistender gearbeitet habe. Als ich noch glaubte, alle politischen Konflikte ließen sich ohne Waffengewalt lösen. Der Ukraine-Krieg hat mein Denken verändert!
Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt? Hat sich ihre Sicht auf Frieden in Europa durch den Krieg verändert? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.
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Kommentare zum Thema
Auch so ein Ampelunsinn ist der von ihr erklärte angebliche Bedarf von 400.000 sog. Fchkräften p.A.. In den nächsten Jahren findet erst mal Rezession statt, die auch bereits von der Bundesbank vorausgesagt wird, in der nicht Arbeitnehmer gesucht werden, sondern millionenfach gekündigt von Arbeit frei gesetzt werden . Das geschieht bereits in USA in großem Stil. Zudem gibts diese sog. Fachkräfte in Entwicklungsländern mangels Qualifizierung gar nicht, denn Schulbesuch ist dort der ganz seltene Ausnahmefall. So sind von den 530.000 Migranten, die in 2022 in die EU gekommen sind, nur 40.000 zu ArbeitszwecKen gekommen ! Der Rest ist auch nur dürftigst qualifiziert bis häufigst hin zum puren Analphabetismus . Auf dieser Linie liegt dann auch, daß von den seit 09/2015 ins Land gekommenen Mio. Migranten selbst in der Hochkonjunktur nur wenige einen Job gefunden haben, also seit Ankunft von Staatsstütze leben. Die ganze Politik der Ampel beruht auf der Annahme von Luftschlössern.
2/ Aber @Ralph Sina, - Pazifismus hin, Sozialismus mich betreffend her - & eingeschoben, schon in den 70/80ern erfuhr ich die konkret-schlimmsten Dinge über/aus der SU, DDR & Co. nicht von rechten und anderen Demokraten und Antikommunisten, sondern von unabhängigen Sozialisten u. Kommunisten, die zT. später bei den GRÜNEN auftauchten-- konnten Sie nicht, wie ich vor & nach Ende des "realen" Sozialismus l e s e n über die großrussische u. panslavische Ideologie, ihrer Fernziele, über die massenopsychl. KGB-Methoden und die Dugin- oder EURASIEN-STRATEGiE ? Ohne eigenes Info-Netzwerk, Kiew- oder Moskaureisen wußte ich also sachlich abgestuft seit Jahr10ten zunehmend, wie/was im Riesenreich des ewigen Friedes-B so tickt. Und sogar zur UKRAINE lernte ich v.a. durch die dortigen großen Protestwellen & das "Bloodlands"-Buch unseren nazischuld-russo-kolonialen Blick/verlieren. Doch andere lernten von Jahr zu J. wechslwrkd. mit ARD/WDR nur kremlgemäße Moderniserung des gemeins. AntiUSAismus !
Hi, Hr. S i n a, schön daß Sie einige bittere Selbst-/Erkenntnisse von sich wiedergeben! Klar sind bestimmte Ideale -- bei mir war es nicht der Pazifismus (von dem es ja sog. realistischere & irreale gibt, - 1982 haben wir mit den Graswurzelrevolutionären (s. entspr. Zeitschrift) den gewalt"freien"(gandhisch) Widerstand geprobt u. den politischen Streik gegen unsere NATO-Regierung vorbereitet) wie zäher Kleber, an dem man hängt. Der nicht inidividuelle Paz. erschien mir allerdings fast immer verlogen: Pro-Kreml ohne KP ! Aber sagt/e nicht auch der nicht-journalist. Verstand 1994 ff. -- wie es kürzl. bei MONITOR wieder M.L. Beck zitierte bez. YU "...wir werden seit J. dahingeschlachtet, wieso verweigert ihr [EU-& UN-"Pazifisten"] uns die Waffen zur Verteidigung?!" Und schon damals war RUS KriegsMitbetreiber via Belgrad, - Blockierer des sog. Friedens; und in Dtld. mit dem sehr ähnlichen verlogenen dt. Linkspublikum + grüne "Antiimperialisten" al la Stroebele; > desgl. gegen ISRAEL ...