Silvesternacht: Was ist dran an den Vertuschungs-Vorwürfen?
Stand: 27.04.2016, 11:33 Uhr
Wusste die Staatskanzlei von Hannelore Kraft frühzeitig von der Brisanz der Kölner Silvesternacht? Sollte das Wissen vertuscht werden? Das vermutet jedenfalls die Opposition im Land. Was ist dran an den Vorwürfen?
Von Rainer Kellers
Die Aufarbeitung der beispiellosen Vorgänge in der Kölner Silvesternacht hat zwei Dimensionen. Da ist zum einen die Schuldfrage: Wie konnte es passieren, dass hunderte Frauen von enthemmten Männergruppen bedrängt, begrapscht und bestohlen werden konnten? Die zweite Dimension ist eine politische. Es gibt Hinweise darauf, dass die Vorgänge zumindest in den ersten Tagen nach Silvester von Behörden verharmlost oder vertuscht werden sollten. Ist daran womöglich die Staatskanzlei des Landes beteiligt gewesen? Ein Bericht des Kölner "Express" vom Sonntag (24.04.2016) legt diesen Schluss nahe. Zumindest auf den ersten Blick.
Was sind die neuen Vorwürfe?
Der "Express" schreibt, das Umfeld von Hannelore Kraft sei schon am Neujahrstag über die Vorgänge informiert worden. Das sei bisher völlig unbekannt. Das ist so nicht korrekt. Innenminister Ralf Jäger (SPD) hatte bereits Anfang Januar mitgeteilt, dass auch die Staatskanzlei am 1. Januar eine Meldung über ein Wichtiges Ereignis (WE-Meldung) in der Silvesternacht erhalten habe. Die Ministerpräsidentin persönlich soll diese Meldung nicht bekommen haben. Sie will erst am 4. Januar von Jäger informiert worden sein. Aber wer hat die Meldung dann bekommen? Diese Information fehlte bislang.
Der "Express" hat nun erstmals die Namen und Funktions-Mailadressen veröffentlicht. Dem WDR liegt die Liste ebenfalls vor. Demnach ging die Meldung an zwölf Adressen. Darunter sind die persönlichen Mail-Adressen von Regierungssprecher Thomas Breustedt und Amtschefin Anja Surmann sowie verschiedene Funktions-Adressen. Diese beiden Personen gehören zum engsten Umfeld der Ministerpräsidentin. Sie haben die WE-Meldung in ihren Mailfächern gehabt. Doch konnten sie damit auch die Dimension der Vorfälle einschätzen?
Wussten die Kraft-Vertrauten frühzeitig, was in Köln passiert ist?
Die Dramatik der Silvesternacht ist erst später deutlich geworden
Das ist eine komplizierte Frage. Die Staatskanzlei und Innenminister Jäger beteuerten von Anfang an, dass die Dramatik der Silvesternacht aus dieser einen WE-Meldung vom 1. Januar, 14: 36 Uhr, nicht ersichtlich war. Die Meldung beschreibt Übergriffe gegen Frauen, darunter eine Vergewaltigung mit einem Finger. Als Verdächtige werden Männergruppen nordafrikanischer Herkunft genannt. Die Wahrheit über die Silvesternacht lässt sich mit diesen Zeilen also bereits erahnen. Aber: Es ist lediglich von elf Fällen die Rede. Massenhafte Übergriffe, hunderte Opfer und Täter, das alles lässt sich nicht aus der Meldung herauslesen. Bernd Heinen, der Inspekteur der NRW-Polizei, sagte im Innenausschuss: Die Meldung enthalte nichts, "wofür ich den Minister aus dem Bett holen würde".
Es gibt aber auch andere Meinungen. Der für Polizeiangelegenheiten im Ministerium zuständige Abteilungsleiter, Wolfgang Düren, sagte im Innenausschuss, die Meldung sei "politisch bemerkenswert". Sie habe "Verhetzungspotenzial". Das scheint das Lagezentrum der Polizei auch so gesehen zu haben. Denn es schickt WE-Meldungen keinesfalls automatisch an die Staatskanzlei. Das wird nur gemacht, wenn "eine erhöhte politische Bedeutung festzustellen bzw. anzunehmen ist". So heißt es in einem Antwortentwurf des Innenministeriums an den Untersuchungsausschuss, der dem WDR vorliegt. Im Klartext: Alleine schon die Tatsache, dass die Meldung in die Staatskanzlei geschickt wurde, hätte dort aufhorchen lassen müssen.
Wie hat die Staatskanzlei auf die WE-Meldung reagiert?
Wer die Meldung wann wahrgenommen, gelesen und womöglich weitergegeben hat, ist unklar. Regierungssprecher Breustedt sagte am Montag (25.04.2016) im WDR, er habe die Meldung gesehen, ihre Dimension aber nicht erkennen können. Außerdem habe fast zeitgleich die Kölner Polizei am Neujahrstag in einer - erst später korrigierten - Pressemeldung von einer "weitgehend friedlichen Nacht" gesprochen. Einen Grund, die Ministerpräsidentin zu informieren, habe er, Breustedt, jedenfalls nicht gesehen. Zumal WE-Meldungen an die Staatskanzlei nicht gerade selten seien - alleine von November 2015 bis Januar 2016 seien dort über 200 Meldungen eingegangen.
Für die CDU-Abgeordnete Ina Scharrenbach ist das Verschleierungstaktik. Die Staatskanzlei tue alles, um "das Abtauchen der Ministerpräsidentin in den ersten Tagen nach Köln zu rechtfertigen". Kraft hatte bekanntlich erst am 5. Januar schriftlich eine Stellungnahme zu Köln abgegeben. Vor einer Kamera äußerte sie sich am 9. Januar beim Neujahrsempfang der Gelsenkirchener SPD. Zwei Tage später trat sie in der Talkshow "Hart aber Fair" auf.
Ist denn etwas dran an den Vertuschungs-Vorwürfen?
Auffällig ist, dass die Staatskanzlei nicht von sich aus mitgeteilt hat, wer die WE-Meldung erhielt. Laut "Express" seien entsprechende Anfragen unbeantwortet geblieben, und auch in den Sondersitzungen von Innenausschuss und Landtag wurden die Namen nicht genannt. Mittlerweile liegt die Namensliste aber dem Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht vor. Einige Mitglieder des Ausschusses beklagen jedoch, dass die Staatskanzlei und Innenminister Jäger andere Unterlagen über die Silvesternacht zurückhielten. Es fehle unter anderem die Mail-Kommunikation zwischen der Ministerpräsidentin und ihrem Regierungssprecher. Die Staatskanzlei verweist darauf, dass diese Unterlagen zum innersten, geheimen Regierungshandeln zählen - dem so genannten Arkan-Bereich - und deshalb nicht veröffentlicht werden dürften. Nach WDR-Informationen handelt es sich bei den fehlenden Unterlagen um eine einzelne E-Mail des Regierungssprechers Breustedt an Ministerpräsidentin Kraft.
Es gibt aber noch weitere Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit der WE-Meldung. So hatte eine übergeordnete Polizeistelle am Neujahrstag offenbar versucht, das Wort "Vergewaltigung" aus der Meldung zu streichen. Die Kölner Polizei kam diesem angeblichen "Stornowunsch" nicht nach, die Formulierung blieb stehen. Trotzdem besteht der Verdacht, dass eine dem Innenministerium unterstellte Polizeibehörde die Vorgänge relativieren wollte. Das Innenministerium bestreitet das und spricht von "fachlichen Abstimmungsgesprächen". Laut "Bild"-Zeitung soll Innenminister Jäger zudem versucht haben zu vertuschen, dass Teilnehmer des Integration-Projektes "Klarkommen" unter den Verdächtigen der Silvesternacht sind.
Wie geht es weiter?
Der Untersuchungsausschuss hört auch in dieser Woche weiter Zeugen. Dabei geht es aber nicht um die Vertuschungsvorwürfe, sondern um den fehlgelaufenen Polizeieinsatz. Die politische Dimension wird voraussichtlich am 9. Mai Thema sein. Dann muss unter anderem Innenminister Jäger vor dem Ausschuss aussagen.