Bericht über Vorgänge der Silvesternacht
Die Wahrheit über Köln kommt allmählich ans Licht
Stand: 21.01.2016, 09:45 Uhr
Wurden Polizisten am Silvesterabend verfrüht nach Hause geschickt? Hat es auch in Düsseldorf Fehler gegeben? Ging es den Tätern um Sex oder Diebstahl? Ein Bericht des Innenministeriums bringt ein bisschen Licht in die undurchschaubare Silvesternacht von Köln.
Von Rainer Kellers
Die Attacken in der Kölner Silvesternacht haben die politische Tagesordnung in Düsseldorf auf den Kopf gestellt. Ein Untersuchungsausschuss ist beschlossen, fast jeder reguläre Ausschuss behandelt das Thema, und das Innenministerium hat alle Hände voll zu tun, die vielen ungeklärten Fragen zu beantworten. Einen Tag vor der Sitzung des Innenausschusses am Donnerstag hat das Ministerium am Mittwoch (20.01.2016) einen weiteren umfangreichen Bericht an die Abgeordneten geschickt. Das Papier liegt dem WDR vor. Einige der bislang offenen Fragen werden darin - natürlich aus Sicht des Ministers - beantwortet.
Wer hat entschieden, weniger Bereitschaftspolizisten nach Köln zu schicken als angefordert?
Das ist eine Frage, an der die Opposition ein Versagen des Innenministers festmachen will. Das Polizeipräsidium Köln hatte für Silvester beim Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei angefordert. Das sind 123 Mann. Bewilligt wurden aber nur 83 Mann. Warum? Das Ministerium sagt, dass deutlich mehr Beamte eingesetzt wurden als Silvester 2014 - damals schickte das Land einen Zug Bereitschaftspolizei mit 38 Beamten. Dass die Kräfte dieses Mal verstärkt wurden, habe aber nicht daran gelegen, dass Randale oder Übergriffe erwartet wurden. Grund sei die latente Bedrohung durch einen möglichen terroristischen Anschlag gewesen. Die massiven sexuellen Übergriffe habe man nicht vorhersehen können, heißt es. Über die Mannschaftsstärke hat das LZPD nach Absprache mit der Kölner Polizei entschieden. Das Innenministerium sei nicht eingebunden gewesen - und das sei auch grundsätzlich nicht vorgesehen. Mit anderen Worten: Minister Jäger habe nichts damit zu tun.
Stimmt es, dass am Silvesterabend Polizisten nach Hause geschickt wurden?
Das ist richtig. Nach Auskunft des Ministeriums war in Köln am Silvestertag nachmittags eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei bei einer Demonstration im Einsatz. Abends sei davon noch ein Zug im Dienst gewesen, schreibt das Ministerium. Diese 38 Polizisten hat die Einsatzleitung um 21:05 Uhr und 21:45 Uhr nach Hause geschickt. Das Ministerium kritisiert das, die Kräfte hätten zur Unterstützung herangezogen werden können, heißt es im Bericht. Die Polizei Köln übrigens hat es bis zum 14. Januar nicht für nötig gehalten, das Ministerium über diesen Vorgang zu informieren.
Wären Polizisten der Rufbereitschaft überhaupt rechtzeitig vor Ort gewesen?
Warum hat die Polizei keine Verstärkung angefordert?
Innenminister Jäger hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Kölner Polizei Verstärkung angeboten wurde. Die Einsatzleitung hat das aber abgelehnt. Jäger hält das für einen "gravierenden Fehler". Doch wäre die Verstärkung rechtzeitig da gewesen? Dazu schreibt das Ministerium: Die Beamten der Bereitschaftspolizei in Rufbereitschaft müssten innerhalb einer Stunde auf der Dienststelle sein. Erste Teilkräfte hätten nach ca. 90 Minuten am Einsatzort sein können. Aus umliegenden Polizeibehörden hätten zudem ebenfalls Polizisten angefordert werden können, und die wären deutlich schneller vor Ort gewesen. Kurzum: Das Polizeipräsidium Köln wäre in der Lage gewesen, schnell für Verstärkung zu sorgen.
Aber wieso hat die Landeszentrale Hilfe angeboten? Hatte sie Hinweise auf die Vorgänge vor Ort?
Um 23:30 Uhr am Silvesterabend haben das LZPD und die Kölner Polizei telefoniert. In diesem Gespräch wurde Köln gefragt, ob Verstärkung nötig sei. Der Einsatzleiter hat das abgelehnt. Ahnte das LZPD, was in Köln vor sich ging? Nein, sagt das Ministerium. Die Nachfrage "entspricht der polizeilichen Praxis".
Hat Innenminister Jäger zu spät reagiert?
Jäger hat am Neujahrstag um 14:36 Uhr eine Meldung über ein "Wichtiges Ereignis" (WE) in Köln erhalten. Darin war die Rede von elf Übergriffen "zum Nachteil junger Frauen" begangen durch eine Männergruppe von 40 bis 50 Personen. Die Männer wurden als Nordafrikaner beschrieben. Sie sollen die Frauen begrapscht, beklaut und in einem Fall mit einem Finger vergewaltigt haben. Diese Meldung hat unter anderem auch die Staatskanzlei bekommen. Eine weitere WE-Meldung ging am selben Tag an den Minister. Hätte er sofort reagieren müssen? Jäger verneint das. "Die Meldungen ließen keine Schlüsse auf die heute bekannte Dimension zu". Er sieht sich darin durch die Einschätzung der LZPD bestätigt. Im täglichen Lagebild der Zentrale ist erst am Montag, 4. Januar, von den Kölner Vorgängen die Rede. Medienberichte über die massenhaften Angriffe hatte es aber bereits ab dem 2. Januar gegeben. Am Montag habe Jäger mit dem Kölner Polizeipräsidenten Wolfgang Albers telefoniert, heißt es. Am selben Tag äußerte er sich auch erstmals öffentlich. Die Opposition hält das für zu spät, Jäger macht den Polizeipräsidenten für eine schlechte Kommunikation verantwortlich.
Und Hannelore Kraft? Wann wusste die Ministerpräsidentin Bescheid?
Hannelore Kraft war wohl erst am 4. Januar informiert
Kraft war über Silvester im Urlaub. Von Jäger sei sie erst am Montag (4. Januar) informiert worden, als sich die Lage erkennbar zugespitzt hatte. Sie habe ihm um mehr Informationen gebeten, um eine Stellungnahme am nächsten Tag vorbereiten zu können. Diese Stellungnahme wurde am Dienstag (5. Januar) an die Medien gegeben. Während in den folgenden Tagen nahezu weltweit über Köln diskutiert wurde, äußerte sich Kraft vor einer Kamera erst am 9. Januar beim Neujahrsempfang der Gelsenkirchener SPD. Zwei Tage später trat sie in der Talkshow "Hart aber Fair" auf.
Gibt es neue Ermittlungsergebnisse?
Die Zahl der Anzeigen steigt immer noch. Mit Stand Montag (18.01.2016) sind der 140-köpfigen Ermittlungsgruppe "Neujahr" 821 Straftaten in Köln bekannt. Davon sind 359 Sexualstraftaten, teils in Zusammenhang mit Diebstählen, und 462 Eigentums-, Raub- oder Körperverletzungsdelikte. 1.049 Opfer sind erfasst. Ermittelt wird derzeit gegen 30 Personen, allesamt Ausländer. 15 sind Asylbewerber, elf halten sich illegal in Deutschland auf, zwei sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und zwei haben eine Aufenthaltsgenehmigung. 25 dieser Personen stammen aus Marokko oder Algerien. Sieben befinden sich in Untersuchungshaft, nur einer davon wegen eines Sexualdelikts. Die Ermittlungen laufen weiter. Unter anderem werden 1,6 Millionen Datensätze aus einer Funkzellenabfrage ausgewertet.
Was war das Motiv für die Taten? Ging es vorrangig um Sex oder Diebstahl?
Unterschiedliche Motive bei den Tätern von Köln
Das Ministerium schreibt, dass bislang vieles darauf hindeute, dass die Täter vorrangig "sexuell motiviert" waren. Diebstahl kam dann offenbar wegen der guten Gelegenheit mit dazu. Die Polizei hat aber deutliche Hinweise auf unterschiedliche Tätergruppen. Wahrscheinlich ist, dass die Motive der Gruppen unterschiedlich waren, dass also einige zum Klauen da waren, während andere sexuelle Übergriffe vorhatten. Keine Anhaltspunkte gebe es für ein organisiertes Vorgehen der Tätergruppen. Der Bericht spricht von "kriminell gruppendynamischen Prozessen".
Hat es auch in Düsseldorf Versäumnisse gegeben?
Ähnlich wie in Köln steigt die Zahl der Fälle auch in Düsseldorf. Die Ermittlungskommission "Silvester" geht 113 Straftaten nach, 69 davon sind Sexualdelikte. Die Polizei in der Landeshauptstadt berichtet von einem "ungewohnten Phänomen": "Gruppen von jungen Männern mit Migrationshintergrund zeigten gar keinen Respekt vor Frauen und unterschritten jegliche sozial übliche Distanz". Die Polizeiwache Stadtmitte war zeitweise völlig überfüllt, weil viele Personen eine Anzeige aufgeben wollten. Das Ministerium bewertet es als "kritisch", dass die Polizeiwache nicht verstärkt worden war. Außerdem hätte der Einsatz in der Silvesternacht von einem Beamten des höheren Dienstes geleitet werden sollen. Genau wie in Köln hatte aber lediglich ein Beamter des gehobenen Dienstes das Sagen.
Was ist in anderen Städten passiert
Berichte über sexuelle Übergriffe gibt es auch aus Dortmund, Essen, Bielefeld und anderen Städten. Davon hatte am Dienstag (19.01.2016) schon der Justizminister berichtet. In Bielefeld zum Beispiel schildert die Polizei Probleme mit 150 bis 200 "unzufriedenen alkoholisierten Männern mit Migrationshintergrund". Die Männer wurden in Discos nicht eingelassen, reagierten teils aggressiv und zündeten unkontrolliert Feuerwerkskörper.
Was wird getan, damit sich die Vorfälle von Silvester nicht wiederholen?
Allgemein gesprochen ist die Polizei seit dem Jahreswechsel bemüht, das Sicherheitsgefühl der Bürger wieder herzustellen. In Köln zeigt die Polizei rund um den Bahnhof starke Präsenz. Jeden Tag sind von 17 bis 1 Uhr nachts jeweils 160 Polizisten im Einsatz. Diese "Sondereinsätze" sollen bis Karneval fortgesetzt werden. Am Karnevalswochenende sollen alle verfügbaren Beamten eingesetzt werden, es gilt Urlaubssperre, und das freie Wochenende ist gestrichen. Zudem sollen die Polizisten durch Polizeianwärter verstärkt werden. Langfristig will die Landesregierung durch neue und verbesserte Präventionsprojekte verhindern, dass sich die Ereignisse der Silvesternacht wiederholen. Bislang gibt es dazu aber noch keine konkreten Vorschläge.