NRW braucht weniger Braunkohle als erwartet 01:00 Min. Verfügbar bis 19.04.2026

NRW braucht laut Analyse viel weniger Braunkohle als von Regierung erwartet

Stand: 19.04.2024, 18:32 Uhr

Damit Deutschland genug Strom hat, müsse kurzfristig mehr Braunkohle verbrannt werden - hieß es in der Politik im Winter 2022/2023. Es kam aber ganz anders, zeigt eine neue Analyse.

Von Tobias Zacher

Seit dem Kompromiss zum vorgezogenen Kohleausstieg zwischen Land, Bund und RWE wurde wesentlich weniger Braunkohle zur Stromerzeugung benötigt als von der Landesregierung angenommen. Auch in den kommenden Jahren wird der Kohlebedarf wohl deutlich unter den Erwartungen der Politik liegen. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos, die dem WDR vorliegt. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) NRW hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben.

Weniger Kohlestrom erzeugt

Kohlekraftwerk in Niederaußem | Bildquelle: AFP/ INA FASSBENDER

Demnach wurden in den Jahren 2022 und 2023 insgesamt 14 Terawattstunden (TWh) weniger Strom in den Garzweiler-Kraftwerken Niederaußem und Neurath produziert als von der Landesregierung prognostiziert. Die "Hauptursache liegt im stärker und schneller als angenommen gesunkenen Gaspreis", stellen die Autoren der Untersuchung fest. Im entscheidenden Jahr 2023 lag die Stromerzeugung in den relevanten Braunkohlekraftwerken Niederaußem und Neurath sogar satte 35 Prozent unter den Mindest-Erwartungen der Landesregierung.

Der Braunkohlestrom wurde schlicht nicht gebraucht.

Besonders interessant: Dieser Rückgang setzt sich fort. So liegt die Braunkohleverstromung im Januar und Februar 2024 noch einmal um etwa 30 Prozent niedriger als in den gleichen Monaten im Jahr 2023. In 2024 werde die Erzeugung unter dem Strich nun noch einmal "voraussichtlich 4-12 TWh niedriger ausfallen als angenommen" schreibt Prognos in dem Papier. Die Landesregierung war für 2024 von mindestens 32,6 Terawattstunden Bruttostromerzeugung in den Garzweiler-Kraftwerken ausgegangen. Prognos erwartet eine tatsächliche Produktion von circa 24 Terawattstunden.

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Rund ein Drittel weniger Braunkohle benötigt

"Um die Energieversorgung Nordrhein-Westfalens und Deutschlands zu sichern" müsse kurzfristig mehr Braunkohle verstromt werden - das hatte NRW-Energieministerin Mona Neubaur (Grüne) im Januar 2023 gesagt. Für das Gesamtjahr erwartete ihr Ministerium den Höhepunkt der benötigten Braunkohlemenge aus dem Tagebau Garzweiler. Die Prognos-Analyse zeigt nun, dass in Wirklichkeit das Gegenteil passierte: Die Erzeugung war im Jahr 2023 sogar deutlich niedriger als im Vorjahr.

BUND fordert "alternatives Tagebauszenario"

Angesichts der Zahlen kritisiert der BUND das Vorgehen der Landesregierung - und fordert Konsequenzen für die Zukunft: "Aus energiewirtschaftlicher Sicht war die Zerstörung Lützeraths nicht zu rechtfertigen", sagte der NRW-Geschäftsleiter des BUND, Dirk Jansen, dem WDR. Angesichts des geringeren Braunkohlebedarfs fordert er, die "Debatte um eine Verschiebung des Braunkohlenausstiegs zu beenden", stattdessen brauche es "ein alternatives Tagebauszenario." Dieses müsse "Wege definieren, wie die Gestaltung und Rekultivierung der Braunkohlengruben unter größtmöglicher Vermeidung neuer Landschaftszerstörung erfolgen kann", so Jansen.

Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorgezogen

Im Oktober 2022 hatten das Land NRW, der Bund und der Braunkohlekonzern RWE vereinbart, dass im Rheinischen Revier bereits acht Jahre früher als geplant das Fördern und Verbrennen von Braunkohle enden soll - nämlich im Jahr 2030. Zugleich wurde angesichts der damaligen Energiekrise festgelegt, dass bis zu diesem Datum zwölf Millionen Tonnen mehr Braunkohle zur Stromerzeugung verfeuert werden darf, als ursprünglich vorgesehen. Dazu durften die RWE-Kraftwerksblöcke Neurath D und E länger am Netz bleiben. Die Vereinbarung sah drittens vor, dass der Ort Lützerath abgebaggert werden darf - weil die Kohle darunter gebraucht werde, wie es hieß.

Die Landesregierung stützte diese Entscheidungen im Herbst 2022 auf ein Gutachten, das die Energieberatung "BET" sowie die landeseigene Gesellschaft "Energy4Climate" erstellt hatten. Darin wurde ein "sehr hoher Bedarf in 2022 und 2023" an Braunkohlestrom vorausgesagt, der nie eintrat.

Falsche Annahmen hatten erhebliche Folgen

Dass sich Landes- und Bundesregierung diese falschen Annahmen zu eigen machten, war folgenreich: Sie gaben deshalb das ehemalige Dorf Lützerath für RWE zum Abbaggern frei. Dagegen demonstrierten im Januar 2023 zehntausende Menschen; die Räumung des Ortes machte einen der größten Polizeieinsätze in der Landesgeschichte erforderlich.

Andere Gutachter schätzten genauer als das Land

Mona Neubaur (Grüne) | Bildquelle: WDR

Dabei prognostizierten schon damals mehrere andere Analysen das Gegenteil des Landes-Gutachtens: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, die Coal-Exit-Forschergruppe aus Flensburg, Aurora Energy Research aus Oxford – sie alle kamen zum Ergebnis, dass die Kohle unter Lützerath bis 2030 nicht gebraucht werde. Dennoch: "Um die Energieversorgungssicherheit gewährleisten zu können jetzt für diesen Winter und den nächsten, ist es leider notwendig, die unter Lützerath liegende Kohle zu verwenden", beharrte Neubaur Anfang 2023.

BUND-Sprecher Jansen fordert nun ein Eingeständnis der schwarz-grünen Koalition: "Sowohl unter dem bereits 2018 zerstörten Dorf Immerath als auch unter dem 2023 geräumten Lützerath wurde bis heute kein Gramm Braunkohle gefördert. Da muss sich die Landesregierung ehrlich machen", sagte er.

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Neubaurs Ministerium widerspricht BUND

Auf WDR-Anfrage bestätigte das NRW-Wirtschaftsministerium, "dass die Braunkohleverstromung im Jahr 2023 stark rückläufig war". Die Ursache dafür sei, dass die Erneuerbaren Energien sich mit ihren günstigen Strompreisen am Markt durchgesetzt haben. Jedoch: "Diese Entwicklung, so erfreulich sie ist, war zum Zeitpunkt der Erstellung der für die Eckpunktevereinbarung zum Braunkohleausstieg 2030 im Rheinischen Revier maßgeblichen Studien (August/September 2022) nicht absehbar", insistiert Neubaurs Ministerium weiterhin. "Dementsprechend konnten und durften politische Entscheidungen im Hinblick auf die Versorgungssicherheit nicht in der Erwartung einer solchen Entwicklung getroffen werden", heißt es.

Und auch, dass Lützerath hätte erhalten werden können, verneint das Wirtschaftsministerium. Diese Schlussfolgerung des BUND sei "aus fachlicher Sicht nicht haltbar", teilt das Ministerium mit - und verweist auf die in seinem Auftrag erstellten Untersuchungen aus dem Jahr 2022, die zu dem entsprechenden Ergebnis kamen.

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