Das neue "Lagebild Islamismus 2024", das Innenminister Herbert Reul (CDU) am Dienstag vorgestellt hat, zeigt vor allem eins: Bei der Radikalisierung junger Menschen spielen die Sozialen Medien eine große Rolle. Extremistische Muslime mit "Lifestyle-Charakter", so der Bericht, köderten Jugendliche. Daher sei vor allem auch Aufklärungsarbeit an Schulen nötig - so eine Schlussfolgerung Reuls.
Das Projekt "CleaRNetworking" der Bundeszentrale für politische Bildung tut genau das: schult Lehrende im Umgang mit Verschwörungsideologien, Extremismus, Radikalisierung und gewaltbefürwortenden Phänomenen unter Schülern. Das Angebot müsste viel breiter aufgestellt sein, sagt Projektleiter Junus el-Naggar.
WDR: Haben Sie eine Erklärung, wieso junge Leute so radikalisiert werden können?
Junus el-Naggar: Grundsätzlich ist die Jugend in einem Alter, in dem sich die Persönlichkeit noch formt. Was notwendigerweise dazu führt, dass sie besonders anfällig sind für radikale Ansprachen. Dazu kommt, dass radikale Ideologien Funktionen erfüllen für Jugendliche: Sie bieten ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Gemeinschaft - was sie vielleicht sonst kaum haben. Sie bieten häufig sehr kurze, einfache Antworten auf doch recht komplexe Fragen. Das ist natürlich attraktiv.
Wenn dann noch sogenannte Risikofaktoren dazu kommen - also Erfahrungen beispielsweise von gesellschaftlicher Marginalisierung, Mobbing oder Armut, Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, die sich vielleicht nicht kümmern können - dann sind das Faktoren, die Radikalisierung begünstigen.
WDR: Wer muss sich denn kümmern?
el-Naggar: Das ist eine Aufgabe, die die gesamte Gesellschaft betrifft. Radikalisierungsprävention kann auf verschiedenen Ebenen folgen: Im Kontext Schule - das ist unsere Kernkompetenz -, aber natürlich sind auch die Familien, die Elternhäuser gefragt. Und auch die Gesellschaft als solche: Menschen eben nicht zu marginalisieren, sondern partizipieren zu lassen. Die Politik ist auch gefragt, jungen Menschen Unterstützungsangebote zu machen. Wir würden begrüßen, wenn die schulische Radikalisierungsprävention ein fester Bestandteil in der universitären Ausbildung wäre.
WDR: Sie kümmern sich darum, dass Schulen besser vorbereitet sind.
el-Naggar: Wir haben eine Weiterbildung für schulische Schulsozialarbeit und Lehrkräfte bundesweit konzipiert, die sich unterschiedlichen Fragen rund um Radikalisierungsprävention widmet - von rechtlichen Fragen rund um Straftatbestände über ganz viel Sensibilisierungsarbeit, Religionssensibilität, Methoden der politischen Bildung, systemische Beratung: Wie kann man Gespräche führen, Fragetechniken - also wirklich auch praktische Arbeit, um mit Fällen von Radikalisierungen an Schulen umgehen zu können.
WDR: Haben Schulen Erfolg damit?
el-Naggar: Wir kriegen sehr positives Feedback - weil das eben Kompetenzen sind, die weder in der universitären Ausbildung noch im Referendariat so explizit vermittelt werden. Allerdings besteht unser Projekt nur aus drei Mitarbeitern. Da ist es natürlich schwierig, bundesweit alle Schulen ansprechen zu können.
WDR: Wenn wir heute hören, dass Schulen besser vorbereitet sein müssten, dann müsste Ihre Beratung doch eigentlich bundesweit flächendeckend angeboten werden.
el-Naggar: Wir würden uns wünschen, dass mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden, die in den Bereich der Radikalisierungsprävention fließen, aber auch allgemein in den Bereich der politischen Bildung. Dort wird jetzt gekürzt - das halten wir für einen Fehler.
Gleichzeitig macht uns die begrenzte Dauer solcher Projekte zu schaffen, weil wir immer wieder damit beschäftigt sind, uns um Anschlussfinanzierungen zu kümmern, um eben weiterarbeiten zu können. Eine langfristige Arbeit ist so erschwert.
WDR: Sind denn schon einmal Politiker von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf sie zugekommen?
el-Naggar: Auf uns ist noch niemand zugekommen. Wir sind aber jetzt in einer Phase, wo wir Ausschau halten nach möglichen Anschlussfinanzierung und werden da sicherlich auch auf mögliche Förderer zugehen.
WDR: Wie lange Zeit kann sich denn eine Gesellschaft noch lassen, wenn wir sehen, dass Videos von Hasspredigern Millionen Mal geklickt werden, dass sie durch die Straßen laufen und ein Kalifat fordern?
el-Naggar: Ich glaube, wir brauchen da ein gesundes Maß dazwischen, solche Fälle und Akteure ernst zu nehmen einerseits und andererseits auch nicht zu dramatisieren und zu alarmisieren. Weil das eben die Gefahr einer Stigmatisierung zur Folge hat. Es gibt viele seriöse und moderate Angebote im Internet.
Es gibt aber auch einige schwarze Schafe, die so besonders attraktiv sind, weil sie eben so einfache Antworten auf komplexe Fragen geben, weil sie den Jugendlichen viel bieten, was andere Akteure aktuell noch nicht schaffen. Aber wenn wir dieses Maß erreichen könnten zwischen nicht bagatellisieren, aber auch nicht dramatisieren, dann hätten wir schon viel erreicht.
Das Interview führte Martina Koch für die Aktuelle Stunde