Interview mit Mevlüde Genç
"Und trotzdem habe ich nicht mit Hass reagiert"
Stand: 29.05.2013, 06:00 Uhr
Mevlüde Genç erzählt vom größten Verlust ihres Lebens. Zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte starben beim Brandanschlag auf ihr Haus in Solingen. Am Mittwoch (29.05.2013) vor 20 Jahren. Seitdem versucht sie, mit dem Schmerz zu leben. Doch die Zeit hat ihre Wunden nicht geheilt.
WDR.de: Frau Genç, Sie sagen, Ihr Herz ist leer. Gibt es nichts, mit dem Sie es füllen können?
Mevlüde Genç: Doch, natürlich, mit meinen Enkelkindern. Ich kann dann manchmal alles vergessen. Aber ich denke auch daran, dass, wenn meine anderen Kinder am Leben wären, hätte ich bestimmt noch mehr Enkelkinder gehabt. Ich hätte sie besuchen können, meine Enkelkinder umarmen können. Manchmal träume ich so vor mich hin und überlebe diese Tage so. Manchmal sehe ich die Freunde meiner Kinder, und es schmerzt mich. Die haben alle selbst Kinder und schieben die Kinderwagen vor sich her. Wenn ich das sehe, schmerzt mich das. Es waren ja nicht ein oder zwei Kinder, ich habe fünf verloren. Sie hatten Freunde in der Schule, wenn ich die Freunde sah, tat ich so, als ob ich sie nicht gesehen hätte.
WDR.de: Was hat sich für Sie nach dem Brandanschlag von 1993 geändert?
Durmus und Mevlüde Genç beim Tee
Genç: 1993 ist meine Welt zusammengebrochen, ich habe meine Kinder verloren. Es ist nicht einfach gewesen, den Schmerz zu ertragen. Mit dem Älterwerden ist der Schmerz sogar schwerer geworden. Ich kann ihn nicht mehr tragen. Ich habe fünf Kinder an einem Tag verloren und am selben Tag in Särge gelegt. So etwas ist nicht einfach. Ich habe mein Wertvollstes verloren, einen Teil von mir. Und ich habe trotzdem nicht mit Hass reagiert, sondern mit Liebe und Respekt. Wir sind Menschen und müssen einander respektieren und wertschätzen. Wir müssen einander helfen und gegenseitig verstehen. Ich habe fünf Kinder verloren und meinen Schmerz vergraben. Ich habe nachts geweint und mich tagsüber um meine anderen Kinder gekümmert. Ich habe meine Tränen nicht gezeigt.
WDR.de: Fällt es Ihnen schwer, gegenüber den Medien darüber zu sprechen?
Genç: Einerseits möchte ich, andererseits auch nicht. Ich möchte nicht darüber sprechen, weil die Wunde wieder aufgeht. Aber wenn ich nicht darüber spreche, wird man das morgen oder übermorgen vergessen. Ich hätte nicht die Kraft, jeden Tag und immer wieder alles von vorne zu erzählen. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Ich vertraue unserem Staat.
WDR.de: Wie geht man mit dem Verlust und dem Schmerz um?
Ein Bild von Johannes Rau steht im Wohnzimmer der Gençs
Genç: Ich danke meinem Staat, er hat immer zu mir gestanden, der deutsche Staat war immer für mich da. Ich bin zwar in der Türkei geboren, aber hier lebe ich jetzt. Ich bin sehr dankbar, dass ich hier bin und hier auch unser Brot verdient habe. Wir müssen zusammen leben wie Geschwister. Wir sind alle Menschen, die von einem Gott erschaffen wurden. Wir haben den gleichen Gott.
WDR.de: Auch nach zwanzig Jahren gibt es immer noch Rassismus, und Menschen werden getötet. Was haben Sie empfunden, als Sie von den NSU-Morden erfahren haben?
Genç: Ich habe es ja bereits gesagt: Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Wir dürfen nicht sofort einander beschuldigen. Unser Staat kümmert sich darum. Er untersucht alle Vorgänge. Es gibt Recht und Gesetz. Natürlich habe ich auch Schmerz empfunden und habe Mitgefühl. Diese Menschen haben auch alles verloren. Aber ich vertraue unserem Staat. Solange der Staat zu uns steht, wird er alles untersuchen. Ich kann das von meinen vier Wänden aus nicht beurteilen und habe auch keinen Einfluss.
WDR.de: Können Sie sich an die ersten Tage in Deutschland erinnern?
Genç: Ich erinnere mich an unsere Wohnung, die mein Mann damals gemietet hatte. Ich konnte die Sprache nicht und wusste auch nichts von den Regeln und dem Leben hier. Ich saß manchmal am Fenster und guckte durch die Gardinen hinaus und sah die Menschen, die zur Arbeit gingen. Ich wusste nicht, wohin man geht und wie man einkauft. Man ist wie ein Blinder, wenn man kein Deutsch kann. Auch wenn man Lesen und Schreiben kann. Man weiß nicht, wo man was bekommen kann. Ich habe traurige Tage erlebt. Aber mit der Zeit habe ich auch das gelernt.
WDR.de: Sie sind in Solingen geblieben, warum?
Genç: Ich habe immer hier gelebt, es ist meine Heimat. Das Gute und das Schlechte der Stadt gehören zu mir. Solingen ist meine Heimat, genau wie die Türkei, und ich liebe die Stadt genauso. In der Türkei kenne ich mich nicht aus. Hier weiß ich alles. In der Türkei brauche ich einen ganzen Monat, um mich an das Leben und die Menschen dort zu gewöhnen. Ich fühle mich da wie eine Fremde. Aber sobald ich hier in Düsseldorf auf dem Flughafen lande, spüre ich die Heimat. In Solingen kenne ich jede Straße. Ich fühle mich hier überhaupt nicht fremd. Mit 27 Jahren bin ich hierher gekommen, heute bin ich 70. Ich bleibe bis zu meinem Tod hier. Meine Kinder und ich. Heimat ist da, wo man seine Familie und seine Freunde hat, da, wo man die Straßen kennt, und weiß, wer nebenan wohnt. Die schmerzliche und die schöne Seite gehören dazu.
Das Interview führte Ayten Hedia.