Firmensitz nach Hamburg verlegt
Envio, ein Wirtschaftskrimi
Stand: 30.11.2010, 02:00 Uhr
Der Skandal um den Dortmunder PCB-Entsorger Envio geht mit einem Treffen der Aktionäre in die nächste Runde. Branchenkenner glauben, dass das Unternehmen ausgeblutet werden soll, um Schadensersatzklagen zu entgehen.
Von Katrin Schlusen
Ausgerechnet ins Kasino der Spielbank Hohensyburg hat die Envio Aktiengesellschaft ihre Anteilseigner gebeten. Am Dienstag (30.11.2010) soll dort die jährliche Hauptversammlung abgehalten werden. Und diese dürfte ganz anders ablaufen, als die Aktionärstreffen von anderen Börsenunternehmen: Schon in der Einladung an die Aktionäre wird angekündigt, dass die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat verschoben werden soll - "wegen des noch nicht abschließend aufgeklärten Sachverhalts im Zusammenhang mit der Betriebsstilllegung", wie es das Unternehmen formuliert. Hinter diesem ungeklärten Sachverhalt stecken die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Dortmund und mehrere Strafanzeigen unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung. Der PCB-Entsorger Envio steht im Verdacht, dafür verantwortlich zu sein, dass bei über 200 Menschen, darunter auch Kindern, erhöhte PCB- und Dioxin-Werte im Blut nachgewiesen wurden. Für die Geschädigten ist die Hauptversammlung von besonderem Interessen, weil sie um mögliche Schmerzensgelder bangen.
Envio-Aktie ist fast nichts mehr wert
Seitdem die PCB-Verseuchung bekannt wurde, hat Envio in Dortmund die Gewerbeerlaubnis verloren und für zwei Tochtergesellschaften Insolvenz angemeldet. Die Aktie, die zu Spitzenzeiten im April 2010 noch über vier Euro Wert war, hat heute nur noch einen Gegenwert von 44 Cent. Die Wertpapiere sind zu über 60 Prozent im Besitz von Aktionären aus dem Envio-Umfeld. Beispielsweise besitzt Vorstandschef Dirk Neupert laut dem Börsenportal Cortal Consors 28,27 Prozent der Envio-Aktien.
Vorstand muss die Wahrheit sagen
Einer der wenigen Aktionäre von außen ist Andrew Murphy vom Management Murphy & Spitz Umweltfonds. Sein Unternehmen hatte Envio in seinen Deutschlandfonds aufgenommen, war aber schon im Februar 2010 misstrauisch geworden. Im April wurde Envio wegen mangelnder Transparenz aus dem Fonds gestrichen. Bei der Hauptversammlung will Murphy einige Fragen an den Vorstand richten - laut deutschem Aktienrecht müssen die Vorstände bei der Hauptversammlung nämlich die Wahrheit über den Finanzstatus des Unternehmens sagen - sonst droht ihnen nach Paragraf 400 eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.
"Sie lassen die Envio Holding ausbluten"
Offene Fragen gibt es genug. Der Sitz der Envio AG soll nach Hamburg verlegt werden. Eine Ausschüttung an die Aktionäre gibt es in diesem Jahr lediglich in Form einer Sachdividende. Die Aktionäre bekommen für 100 Envio Aktien eine Aktie der noch nicht an der Börse zugelassenen Bebra Biogas Holding AG. "Der Vorstand schenkt sich damit die Mehrheit an der Bebra Biogas", erklärt Andrew Murphy. Seiner Einschätzung nach soll das neue Unternehmen aus dem Envio-Komplex herausgelöst werden. Mit anderen Worten: Vermögenswerte werden zwischen den beiden Unternehmen verschoben. "Sie lassen die Envio Holding ausbluten", ist Murphy überzeugt. Schadensersatzklagen der ehemaligen Mitarbeiter gegen Envio würden die neue Bebra Biogas nicht betreffen.
"Die Geschädigten stehen leider ganz hinten"
Ist so ein Aktien-Transfer überhaupt legal? Ja, sagt der Düsseldorfer Unternehmensrechtler Prof. Olaf Müller-Michaels. "Das ist allerdings sehr unüblich", so der Experte. "Mir ist kein Fall bekannt, wo das schon mal passiert ist." Möglicherweise könne ein Insolvenzverwalter die Transaktion rückgängig machen. Ob die Betroffenen Mitarbeiter, Anwohner und Angehörige jemals einen Schadensersatz ausgezahlt bekommen ist fraglich. "Die Geschädigten stehen leider ganz hinten", so Müller-Michaels. "Ohne einen Insolvenzverwalter wird sich da nichts tun."
"Das könnte ein Bilanztrick sein"
Noch sieht es aber nicht so aus, als sei die Envio AG auch zahlungsunfähig. "Ende April 2010 hat die Unternehmensgruppe noch über viereinhalb Millionen Euro an liquiden Mitteln besessen", berichtet Finanzexperte Andrew Murphy. Allerdings wurde im Geschäftsbericht für 2009 eine Rückstellung von 7,3 Millionen Euro angegeben. Damit ist der Anteil an Eigenkapital von 67 Prozent auf 0,6 Prozent gerutscht. "Das könnte ein Bilanztrick sein", so Murphy. "Und danach werde ich den Wirtschaftsprüfer König bei der Hauptversammlung fragen und mir alles ganz genau aufschlüsseln lassen."
Hauptversammlung könnte zwei Tage dauern
Beide Experten rechnen damit, dass die Hauptversammlung zwei Tage dauern könnte. Da Aktionäre aus dem Envio-Umfeld die Mehrheit der Aktion besitzen, scheint der Umtausch von Envio-Papieren in Bebra-Aktien nahezu eine ausgemachte Sache zu sein. Solange der Handel mit den Papieren juristisch korrekt abläuft, greift die Börsenaufsicht nicht ein. Die Entscheidungen der Hauptversammlung - etwa die Auszahlung einer Sachdividende von Bebra Biogas-Aktien - kann durch Minderheitsaktionäre vor dem Landgericht angefochten werden. Die Geschädigten müssen auf die laufenden Ermittlungen durch die Dortmunder Staatsanwaltschaft hoffen, um eine Entschädigung zu erhalten.