Die Zwickauer Zelle in NRW - Teil 3
"Nicht proaktiv die rechte Szene abgegrast"
Stand: 03.11.2012, 00:00 Uhr
Am 4. November 2011 enttarnte sich der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) selbst. Die sogenannte Zwickauer Terrorzelle soll jahrelang unerkannt gebombt und gemordet haben - drei Mal in NRW. Warum haben die Behörden die Fälle nicht aufgeklärt? Teil 3: Der Mord an einem Dortmunder Kioskbesitzer im Jahr 2006.
Von Dominik Reinle
Der Kiosk von Mehmet K. befindet sich in der Mallinckrodtstraße, einer Hauptverkehrsader der Dortmunder Nordstadt. Vorwiegend Türken betreiben hier kleine Geschäfte und Restaurants. Es ist 10.20 Uhr, als der 39-Jährige am 4. April 2006 seine Frau hinter dem Tresen ablöst. Nach einer kurzen Verabschiedung bleibt Mehmet K. allein im Geschäft zurück. Er ist deutscher Staatsbürger und stammt aus dem kurdischen Süden der Türkei. Gegen 12.30 Uhr fallen einer Zeugin zwei Männer auf dem Bürgersteig vor dem Kiosk auf. Einer hat ein Fahrrad bei sich und einen "gemeinen Ausdruck im Gesicht", wie sich die Zeugin später erinnert. Sie verschiebt den Kioskbesuch und geht in ihre Wohnung.
Nach 20 Minuten kommt die Zeugin zurück. Erneut fallen ihr die beiden Männer mit den "auffälligen Augen" und dem "stechenden bösen Blick" auf. Sie stehen nun in der Hofeinfahrt neben dem Kiosk. Wieder hat die Zeugin ein ungutes Gefühl. Sie überquert die Straße und hebt um 12.59 Uhr bei der Sparkasse Geld ab. Währenddessen betreten die Männer den Kiosk und beginnen zu schießen. Zwei Kugeln verfehlen Mehmet K. nur knapp, zwei treffen seinen Kopf. Um 13.10 Uhr stellt der Notarzt den Tod des dreifachen Familienvaters fest.
Das achte Opfer einer Mordserie
Eine "Ceska", Typ 83, Kaliber 7,65 Millimeter
"Der Mord hat Züge einer Hinrichtung", sagt der Dortmunder Staatsanwalt Heiko Artkämper nach der Tat. Die Untersuchung der Kugeln belegt einige Tage später: Mehmet K. ist das achte Opfer einer bundesweiten Mordserie. Er ist mit derselben Waffe getötet worden, wie zuvor die anderen Männer – mit einer tschechischen Pistole der Marke "Ceska", Typ 83, Kaliber 7,65 Millimeter. Seit dem 9. September 2000 beschäftigen die Morde bundesweit die Behörden. Damals wurde der Blumenhändler Enver S. in Nürnberg getötet. Alle Opfer waren Kleinunternehmer ausländischer Herkunft. Da zwei von ihnen türkische Imbisse betrieben, werden die Taten in der Presse als "Döner-Morde" bezeichnet. Die Polizei gibt der zentralen Ermittlungskommission, die in Nürnberg eingerichtet wird, den Namen "Bosporus". Denn die Behörden gehen lange Zeit davon aus, dass es sich bei den Taten um Organisierte Kriminalität im Umfeld der Opfer handelt.
Auch nach dem Dortmunder Mord vermutet die Polizei, Mehmet K. sei das Opfer von Schutzgelderpressung geworden oder in Drogengeschäfte verwickelt gewesen. Doch die Fahnder finden dafür keine Belege. Die Tochter von Mehmet K. sagt, ihr Vater habe weder in der Türkei noch in Deutschland eine Fehde gehabt. Sie ist überzeugt, dass er von Neonazis ermordet worden ist. "Aber die Beamten haben nicht auf mich gehört", sagt sie später. Auch die Witwe von Mehmet K. geht von einem fremdenfeindlichen Hintergrund aus.
Täter hinterlassen kaum Spuren
"Sehr dünnes Spurenaufkommen"
Am Tatort wird außer einer Patronenhülse und den abgefeuerten Kugeln kein weiterer Hinweis gefunden. Es gibt weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke der Täter. "Wir haben ein sehr dünnes Spurenaufkommen gehabt", sagt Kriminaloberrat Bert Gricksch im Juli 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss. Er hat die Dortmunder Mordkommission geleitet, die wiederum der Sonderkommission "Bosporus" zugearbeitet hat. Zum Jahresende 2006 sind in Dortmund nur noch insgesamt drei Beamte mit dem Mord an Mehmet K. befasst. "Ist das üblich, so früh so stark herunterzufahren?", fragt Unions-Obmann Clemens Binninger im Ausschuss. "Das ist üblich, wenn es keine weiteren Spuren mehr abzuarbeiten gilt", antwortet Gricksch. "Es gab kaum Tatbeobachtungen."
Verwirrung um "Junkies oder Nazis"
Bei der Dortmunder Polizei meldet sich nur eine Zeugin, die Aussagen zum Tattag machen kann. "Wir hatten keine andere Person, die unmittelbar zur Tatzeit irgendwelche Personen in diesem Umfeld gesehen hat", sagt Gricksch dem Ausschuss. Umso verwunderlicher ist es, wie die Beamten mit ihrer Aussage umgehen: In Polizeiakten herrscht Verwirrung um ihre Beschreibung der tatverdächtigen Männer. Es ist ungeklärt, weshalb in den Vermerken der Beamten die Aussage der Zeugin unterschiedlich wiedergegeben wird. Sie soll von "Junkies oder Nazis" gesprochen haben, im Schlussbericht ist aber nur noch von "Junkies" die Rede.
Das Thema "Nazis" sei bei der Dortmunder Polizei nicht wegdiskutiert worden, verteidigt sich Gricksch, man habe rechtsextreme Täter "als eine der Möglichkeiten zur Kenntnis genommen". Man habe allerdings "nicht proaktiv die rechte Szene abgegrast, weil es überhaupt nichts gab, was darauf hindeutete." Die Polizei habe sich "auf die Spurenabarbeitung konzentriert, weil man gesagt hat: Wenn wir sie kriegen, dann kriegen wir sie über die Spuren", sagt der Kripobeamte Gricksch.
Profiler legt neue Täter-Theorie vor
Bei der Abarbeitung der Spuren verfolgen die Ermittler zwei Theorien. Zunächst hatte sich die Sonderkommission "Bosporus" jahrelang nur auf die sogenannte Organisationstheorie konzentriert, die besagt, dass hinter den bundesweiten Morden vermutlich eine Organisation mit illegalen Geschäften steckt.
6. April 2006: Der nächste Mord wird in Kassel verübt
Nach dem Mord an Mehmet K. und dem nur zwei Tage später begangenen Mord an Halit Y. in Kassel in einem Internet-Café verändert sich die Lage. Zum einen nimmt der Unmut über die erfolglose Polizeiarbeit in der türkisch stämmigen Bevölkerung zu. Zum anderen legt im Mai 2006 ein bayerischer Polizei-Profiler eine zweite sogenannte Operative Fallanalyse vor, die einen "fremdenfeindlichen Serientäter" für möglich hält – die sogenannte Einzeltätertheorie. Die Beschreibung der möglichen Täter passt ziemlich genau auf Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – wie sich nach dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 herausstellt.
Täter in Nürnberg vermutet
Doch der Profiler irrt in einem zentralen Punkt: "Weil die Täter drei Menschen in Nürnberg und zwei in München erschossen haben, glaubt er, der oder die Täter hätten ihren 'Ankerpunkt in Nürnberg'", schreiben der NDR-Redakteur John Goetz und der Journalist Christian Fuchs in ihrem Buch "Die Zelle". Aufgrund dieser örtlichen Festlegung beschließt die Soko "Bosporus", die rechte Szene in Nürnberg zu überprüfen. Für die Polizeiarbeit in Dortmund hat die Einzeltätertheorie deshalb offenbar keine Bedeutung – obwohl Kripomann Gricksch sich als Anhänger dieser Theorie bezeichnet. Auf die Frage des CDU-Abgeordneten Tankred Schipanski, ob die neue Operative Fallanalyse sich auf seine Arbeit ausgewirkt habe, antwortet Gricksch, er habe daraufhin keine weiteren Maßnahmen "in Richtung rechter Ermittlungen" ergriffen.
In Abschlussberichten der Dortmunder Ermittler vom Sommer 2008 wird schließlich ein möglicher "rechtsextremer Hintergrund" beim Mord an Mehmet K. "mit keinem Wort" erwähnt - stellt SPD-Obfrau Högl im Ausschuss fest und bittet um eine Erläuterung. "Wir haben nicht gezielt in Richtung rechts ermittelt. Das ist richtig. Wir haben in Richtung Einzeltäter ermittelt", antwortet Gricksch. Dieser müsse jedoch nicht zwingend fremdenfeindlich, sondern könne auch geisteskrank sein.
"Alles in allem eine gute Zusammenarbeit"
Als Zeuge geladen: Hartwig Möller
Mit dem NRW-Verfassungsschutz hat die Dortmunder Polizei bei der Bearbeitung des Falles offenbar kaum Kontakt. Der ehemalige NRW-Verfassungsschutzchef Hartwig Möller sagt bei seiner Befragung im September 2012 vor dem Ausschuss, der Mord an Mehmet K. sei "von Anfang an von der Polizei in alleiniger Zuständigkeit bearbeitet", worden. Die Verfassungsschützer hätten sich zwar bei ihren "Dortmunder Quellen" in der rechten Szene umgehört, "ob es Hinweise auf eine fremdenfeindliche Motivation gäbe". Man habe aber von dort keine einschlägigen Informationen erhalten. "Sonst ist der Fall K. überhaupt nicht bei uns aufgeschlagen."
Mehr Kontakt haben die Dortmunder Fahnder mit der Soko "Bosporus", den Polizeidienststellen anderer Länder und dem BKA. Jedenfalls ist Gricksch mit der Zusammenarbeit zufrieden: "Die Zusammenarbeit war alles in allem gut." Zwar seien die Organisations- und die Einzeltätertheorie in der Lenkungsgruppe "öfter kontrovers diskutiert" worden, aber es sei "nie ein Streit" gewesen. "Wir haben beide Theorien spurenmäßig komplett abgearbeitet, weil jedem egal war, ob er recht hatte oder nicht", so Gricksch. "Wir wollten nur, dass dieses sinnlose Morden aufhört."
Opfer in doppelter Hinsicht
Neben kritischen Fragen gibt es für Gricksch im Ausschuss auch Lob. Abgeordnete stellen fest, die Dortmunder Ermittler hätten nicht zwanghaft nach Spuren ins kriminelle Milieu gesucht, und heben den fürsorglichen Umgang mit der Opferfamilie hervor. Gricksch hat bereits zu Beginn seiner Vernehmung durch den Ausschuss den Opfern und ihren Angehörigen sein Mitgefühl ausgesprochen. Er habe volles Verständnis dafür, dass die Angehörigen der Opfer "wenig oder kein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Sicherheitsbehörden unseres Rechtsstaates haben."
Auch Möller - "als Teil der Sicherheitsbehörden, die die Anschläge nicht verhindert haben" - drückt den Familien der Mordopfer sein "tiefes Bedauern" aus. Die Hinterbliebenen seien oft Opfer in doppelter Hinsicht geworden: "Sie verloren nicht nur ihre Angehörigen, sondern sie gerieten zum Teil sogar in den falschen Verdacht, selbst Straftaten begangen zu haben."
Aktueller Ermittlungsstand
Auf die Frage von WDR.de nach dem neuesten Stand der Untersuchungen verweisen sowohl Polizei als auch Verfassungsschutz an die Generalbundesanwaltschaft, die am 11. November 2011 alle Ermittlungen übernommen hat. Von dort sind allerdings ebenfalls keine Informationen zu erhalten. Der "NSU-Verfahrenskomplex" sei noch nicht abgeschlossen.
Auf die Frage, ob bei den Ermittlungen Fehler gemacht wurden und daraus disziplinarische Konsequenzen gezogen worden sind, antwortet die Generalsbundesanwaltschaft: "Die Bewertung der Tätigkeit anderer Behörden obliegt ihr nicht." Zu etwaigen Maßnahmen anderer Behörden könne keine Auskunft erteilt werden.